Brief zum Muttertag…

Liebes Kind,

heute schreibe ich dir diesen Brief, weil ich ehrlich gesagt (wieder einmal) am Verzweifeln bin. Ja, ich zweifle wirklich an vielem, was direkt oder indirekt auch mit dir zu tun hat! Du bist zwar nicht mein leibliches Kind und ich habe dich nicht auf die Welt gebracht und eigentlich bist du ja schon viel älter als ich, was für Kinder und deren Eltern eher ungewöhnlich ist. Aber trotzdem betrachte ich dich als mein Kind. Ich versuche nun schon seit ungefähr 30 Jahren, dich in deiner Entwicklung und in deinem Erwachsenwerden zu unterstützen und zu fördern. Ich habe viele Mühen und auch schlaflose Nächte für dich in Kauf genommen. Ich habe Zeit und Geld in dich investiert. Und ich teile mir die Sorge und Fürsorge um dich mit all deinen vielen anderen Müttern. Und trotzdem steckst du immer noch in den Kinderschuhen und willst diesen offenbar nicht und nicht entwachsen! Ich gebe zu, die Väter fehlen dir und das ist bestimmt auch eines deiner zahlreichen Probleme. Aber nur daran kann es aus meiner Sicht nicht liegen, dass du nicht wachsen willst, dass deine Entwicklung sosehr verzögert ist und dass du aufgrund deiner Kleinwüchsigkeit in deiner Bedeutung, in deiner Wichtigkeit und in deinen Werten einfach nicht gesehen wirst, einfach nicht wahrgenommen wirst! Einzig und alleine dein Name hat sich über die Zeit hinweg verändert. Hat man dich früher Kindergartenpädagogik genannt, so nennt man dich heute Elementarpädagogik. Das hat sich zwar noch nicht überall herumgesprochen und es ist auch noch nicht so eindeutig, dass du auf diesen neuen Namen hörst, dass du dich damit angesprochen fühlst und ehrlich gesagt scheint mir diese Namensänderung auch nicht das Wichtigste in deiner Entwicklung zu sein. Wie jede Mutter wünschte auch ich mir für mein Kind, dass es wächst und gedeiht, dass es mit Freude lernt und sich zu einer Persönlichkeit entwickelt, dass es einmal etwas Bedeutungsvolles in diese Welt einbringen kann. Nun hoffe ich das schon so lange, aber es geschieht leider nicht oder zumindest viel zu langsam. Klar, „gut Ding braucht Weile“ und „Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, so lauten doch diese Weisheiten in der Pädagogik. Aber erstens bin ich von Grund auf ein eher ungeduldiger Mensch und zweitens sind 30 Jahre Zeit des Hoffens und Wartens wirklich eine große Herausforderung, die auch den geduldigsten Menschen irgendwann zur Verzweiflung bringen! Mir ist auch klar, dass du von deinen Patinnen und Paten immer wieder im Stich gelassen wurdest und auch dein neuester Patenonkel Heinz F. scheint wenig Interesse an dir zu haben und ignoriert dich bisweilen, obwohl er versprochen hat, dich nun endlich in sein Haus, das Bildungsministerium zu holen. Es ist nicht gut für Kinder, wenn sie ständig hin und her geschoben werden, das wissen wir Pädagoginnen inzwischen. Mit dir passiert das leider immer schon und immer noch. Aber auch viele deiner Mütter wollen dich klein halten, wollen nicht, dass du groß wirst. Große und immer selbstbewusstere Kinder bringen mitunter auch größere Herausforderungen für uns Erwachsene mit sich, das ist schon klar! Wenn du zu wachsen beginnst, dann müssen alle, die für dich zuständig sind und die mit dir zu tun haben, auch selbst wachsen und davor fürchten sich offenbar viele!

Mein liebes Kind, ich bedaure es unendlich, dass in diesem Land offenbar die Meinung herrscht, dass zwar die Wirtschaft immer weiter und weiter wachsen soll und muss, du aber nicht! Du musst klein und niedlich bleiben, unmündig und bescheiden in deinen eigenen Ansprüchen. Ich werde trotzdem nicht aufhören, dich zu fördern und zu unterstützen so gut ich kann, auch wenn ich befürchte, dass mein Beitrag alleine nicht ausreichen wird für dich, um zu einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit heranzuwachsen. Du liegst mir sehr am Herzen und ich könnte mir mein Leben ohne dich nicht vorstellen. Deshalb kann ich auch den kleinen Funken Hoffnung nicht aufgeben, dass du vielleicht doch noch irgendwann einmal erwachsen wirst. Vielleicht benötigst du dazu noch einmal 30 Jahre Entwicklungszeit. Wenn ich bei guter Gesundheit bleibe, habe ich die Chance, das noch zu erleben.

Eine deiner Mütter
Birgit Ed(ublog)er(in)

 

Autor: Birgit Eder

Elementarpädagogin, die ursprünglich Verhaltensforscherin werden wollte und durch Zufall beruflich im Kindergarten gelandet ist, wo sie sich seit über 25 Jahren genau richtig fühlt!

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