…oder: Das Problem mit „explizit“und„implizit“
„No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“
…Dieses Zitat stammt aus einer Rede, die Winston Churchill am 11. November 1947 vor dem britischen Unterhaus gehalten hat. Übersetzen könnte man diese Aussage in etwa folgedermaßen: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von allen anderen Formen, die von Zeit zu Zeit immer wieder ausprobiert wurden…“
(In Zeiten wie diesen, wo der amtierende amerikanische Präsident zu seiner politischen Kontrahentin eine Differenz von über minus 2 Millionen Wählerstimmen aufzuweisen hat, scheint dieser Befund von Churchill aktueller denn je zu sein.)
Dennoch stellt die Demokratie ein wesentliches Merkmal von Staaten dar, die sich über Werte wie Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die Gleichberechtigung ihrer Bürger/innen deklarieren.
Demokratie impliziert demnach sowohl die Einflussnahme und Teilhabe der Bürger/innen in und am gesellschaftlichen und politischen Geschehen, als auch die Bereitschaft der regierenden politischen Akteure, diese Formen der Partizipation zu fördern, zu fordern und entsprechende Konsequenzen daraus anzuerkennen und umzusetzen.
Demokratisches Verständnis oder gar Verhalten ist jedoch keine genetische Präposition, die der Mensch von Geburt an mitbringt. Beides muss erlebt werden um erworben werden zu können. Und zwar bestenfalls von Beginn an. Die Entwicklung von Demokratie hängt eng und unmittelbar mit dem Thema der Bildung zusammen. Begriffe wie Selbstwirksamkeit, Beteiligung, Verantwortung, Neugierde, Kritikfähigkeit oder selbstbewusstes und selbstständiges Denken kommen mir hier in den Sinn. Es sind dies Begriffe, denen man in zeitgemäßen (frühkindlichen) Bildungsansätzen begegnen kann. Ein Bildungsansatz, der diese Begriffe enthält und in der pädagogischen Praxis gelebt wird, bewirkt implizit und explizit Demokratie. Kinder lernen an Vorbildern höchst effizient, daher ist es besonders wichtig, dass Begriffe nicht nur die Seiten der pädagogischen Konzeptionen schmücken, wunderbar klingende Alltagsphrasen darstellen oder in politischen Sonntagsreden den Anschein von Bedeutungsvoll erwecken sollen. Begriffe müssen zunächst von den Erwachsenen durch Vorleben befüllt werden, um für Kinder glaubwürdig und nachvollziehbar zu sein.
Doch wie sieht es mit diesem expliziten Vorleben von demokratischem Verständnis und demokratischen Verhaltensweisen in unseren Bildungseinrichtungen in der Praxis aus?
„Ein wichtiges Merkmal von Demokratien ist die Anerkennung von Grundrechten.“ So lautet eine häufig vorkommende Aussage, die in Definitionen über Demokratie zu finden ist.
Wie sieht es mit der Anerkennung der Kinderrechte in unseren Bildungseinrichtungen aus? Sind diese überhaupt als „Grundrechte“ bekannt und im Bewusstsein der Erwachsenen präsent? Wie verhält es sich mit der UN -Konvention über die Rechte behinderter Menschen? Demokratie bedeutet Mitbestimmung und Mitentscheidung durch das Volk. Die Regierenden regieren also im Auftrag des Volkes. Wie sehen die Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Mitentscheidung durch Kinder in unseren Bildungseinrichtungen aus? Lassen hierarchisch organisierte Schulstrukturen, in denen die Macht der Notengebung ein wesentliches Erziehungsinstrument darstellt, echte Mitbestimmung und Mitentscheidung von Kindern zu? Wo finden Kinder echte Möglichkeiten, sich an Themen und Prozessen die sie selbst betreffen, zu beteiligen? Wie sieht es mit der Chancengerechtigkeit aus in einem Schulsystem, das immer noch durch die frühe Selektion von Kindern das Trennende vor das Verbindende stellt? Wie verhält es sich mit den Erwachsenen, die in solchen Systemen Kraft der ihnen zugeteilten hierarchisch bedingten Machtposition ein anderes als demokratisch motiviertes Selbstverständnis gegenüber Kindern und Jugendlichen leben? Wie viel Kritik verträgt so ein Bildungssystem und wie reagiert es auf Kritik? Über welche Fähigkeiten und Möglichkeiten zur selbstkritischen Auseinandersetzung verfügen Pädagoginnen und Pädagogen in unseren Bildungseinrichtungen? Wie frei sind Kinder in unserer Gesellschaft wirklich?
Das junge Kind mit seinem „Anfängergeist“ macht sich durch seine Wahrnehmungen und seine Erfahrungen ein Bild von der Welt und ein Bild von sich in dieser Welt.
Die Widersprüchlichkeit, die sich häufig zwischen expliziten Vorgaben und implizitem Vorleben zeigt, stellt meines Erachtens ein veritables (pädagogisches) Problem dar, denn Vorgaben sind weit weniger wirksam als Vorleben. Kinder und Jugendliche bemerken sehr schnell, wenn Erwachsene vorgeben, etwas zu tun und sich ihr Vorleben dazu aber anders verhält. In undemokratischen Beziehungen betrachten Erwachsene es durchaus legitim, Kindern und Jugendlichen zwar Vorgaben zu machen, ihnen das entsprechende Vorbild aber schuldig zu bleiben. Auf diese Weise werden Erwachsene für junge Menschen immer unglaubwürdiger. Kulturelle Grunderfahrungen im Umgang mit Demokratie sind auf diese Weise für Kinder und Jugendliche nicht mehr als durchgängiges Prinzip erfahrbar und können somit auch nicht verinnerlicht werden. Aus Orientierung wird somit Desorientierung. Wenn ich nicht erlebe, dass es AUF MICH ankommt, dass ich selbst ein Stück weit Konstrukteur meiner Wirklichkeit bin, wünsche ich mir vielleicht jemanden, der das für mich macht. Der Wunsch nach dem „starken Macher“ ist Ausdruck einer zunehmenden Unmündigkeit in der Gesellschaft. Menschen, die Mitbestimmung, Mitgestaltung und damit Mitverantwortung nicht als vorausgesetzte Fähigkeiten für ein demokratisches Denken und Handeln in ihrem Selbstkonzept verankert haben, bleiben unmündig und damit undemokratisch. Und so bedingt sich Demokratie aus zwei Perspektiven – jener der politischen Verantwortungsträger/innen, die in ihrem Wirken in einer Demokratie auf demokratiefähige Menschen angewiesen sind und jene der einzelnen Menschen, die erst durch Bildungserfahrungen demokratiefähig werden, bei denen das explizit gesagte mit dem Implizit erlebten übereinstimmt.
Daher beginnt Demokratie in den Kinderschuhen.
Birgit Ed(ublog)er(in)